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Junges Gericht in junger Stadt: Das Amtsgericht Singen

[...] Es gibt nur wenige Gerichte, mit denen man bestimmte Attribute verbindet. […] Das Amtsgericht Singen wiederum dürfte weit und breit das jüngste Amtsgericht sein, ein junges Amtsgericht in einer jungen Stadt[1]. Diese Verbindung ist nicht zufällig, sondern es ist gerade die rasche Entwicklung der Gemeinde Singen zu einer zentral und verkehrsgünstig gelegenen Stadt, die zur Errichtung des hiesigen Amtsgerichts geführt hat. Die politischen Kämpfe, die hierfür gefochten wurden, hat Emil Greulich im Singener Jahrbuch 1979 anschaulich beschrieben[2]. [...]

Das Amtsgericht Singen steht in der Geschichte der badischen Gerichtsorganisation einzigartig dar. Es wurde zu Beginn des Jahres 1929 mit zwei Richterstellen eingerichtet, in einer Zeit, die ansonsten nicht dazu berufen war, neue Gerichte zu schaffen.

So erörterte der ehemalige Reichsjustizminister Eugen Schiffer in seinem ein Jahr zuvor erschienenen Buch über „Die deutsche Justiz“ die Frage, ob denn nicht die Zahl der kleinen Amtsgerichte deutlich zu verringern sei. Schon damals – lange vor der Entwicklung der Personalbedarfs-berechnung Pebb§y – sah sich die preußische Justizverwaltung in der Lage, zu ermessen, dass – nach ihren Maßstäben – etwa die Hälfte der einstelligen und gut ein Drittel der mit zwei planmäßigen Richtern besetzten Amtsgerichte nicht so richtig ausgelastet waren. Da auch bei den preußischen Landgerichten – nach den Begriffen der dortigen Justizverwaltung – von einer „ausreichenden Beschäftigung“ keine Rede sein konnte, waren im Jahr 1926 knapp die Hälfte aller Landgerichtsdirektoren und -räte  zugleich zu Amtsgerichtsräten ernannt[3].

Ob diese Einschätzung in anderen Ländern geteilt wurde, lässt sich ohne weiteres nicht feststellen, erscheint jedoch für die Verhältnisse in Baden als fraglich. So sprach der Amtschef des badischen Justizministeriums 1931 davon, die Justiz sei an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt[4]. Eines aber ist sicher: Die Länder waren äußerst knapp bei Kasse. Jedenfalls so lässt sich erklären, dass im Laufe der 20er und zu Beginn der 30er Jahre vielerorts in Deutschland Amtsgerichte aufgehoben und Richterstellen eingespart wurden. So wurden etwa in Hessen-Darmstadt und Hessen-Nassau nach jahrelangen Diskussionen zwischen 1932 und 1934 insgesamt 28 Amtsgerichte aufgehoben[5]. In Bayern kam es zwischen 1925 und 1933, also genau in den Jahren um 1929 herum, zur Aufhebung von insgesamt 31 Amtsgerichten[6]. In Württemberg verfuhr man mit mehr Zurückhaltung: 1924 wurde ein Amtsgericht, 1931 wurden zwei Amtsgerichte und ein Landgericht aufgehoben[7]. In Baden führte die Personalabbauverordnung von 1923 dazu, 18 Richterstellen an den Landgerichten und weitere 27 Planstellen bei den Amtsgerichten einzusparen. Das Badische Besoldungsgesetz von 1928 wiederum brachte es mit sich, weitere zehn Richterstellen zu streichen und 21 nur noch außerplanmäßig zu besetzen[8].

Allein unter Betrachtung dieser Vorzeichen erscheint die Errichtung des Amtsgerichts Singen im Jahr 1929 als atypisch und singulär. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man die Entwicklung der badischen Gerichtsbarkeit seit dem Jahr 1857 in den Blick nimmt. Damals gingen die badischen Amtsgerichte aus den Bezirksämtern hervor. So wurden in Baden erstmals in der ersten Instanz unabhängige Gerichte geschaffen, insgesamt 73 an der Zahl, davon 15 im Bezirk des Hofgerichtes des Seekreises in Konstanz. Im Jahr 1864 wurde die zweite Gerichtsinstanz merklich verändert, indem den vier Hofgerichten, die sich fortan Kreis- und Hofgerichte nannten, sechs neue Kreisgerichte hinzugefügt wurden, darunter auch das Kreisgericht Villingen. Letzteres führte zur Verkleinerung des Konstanzer Gerichtssprengels, der nun nur noch acht Amtsgerichte umfasste. Schon acht Jahre später, im Jahr 1872, wurden allerdings zwölf Amtsgerichte und vier Kreisgerichte wieder aufgehoben. Dazu zählte auch das Kreisgericht in Villingen, weshalb die Amtsgerichte Donaueschingen und Villingen wieder dem Kreis- und Hofgericht Konstanz zufielen. Das Amtsgericht Radolfzell kam mit einem blauen Auge davon. Auch es hatte – ebenso wie das dortige Bezirksamt – aufgehoben und dem Bezirk des Amtsgerichts Konstanz zugeschrieben werden sollen. Doch wurde die entsprechende Anordnung am 10. April 1872 rückgängig gemacht.

In den Folgejahren wurden 1879 drei badische Amtsgerichte wiedererrichtet, wovon wiederum eines 1924 ein zweites Mal endgültig aufgehoben wurde, sowie 1884 und 1889 nur drei badische Amtsgerichte gänzlich neu geschaffen[9]. Hiervon und von einzelnen Gebietsveränderungen abgesehen, änderte sich in 57 Jahren seit dem Jahr 1872 nichts an der badischen Gerichtsorganisation bis zum 1. Januar 1929 das Amtsgericht Singen errichtet wurde.

Wie nur lässt sich dies erklären? Eine wissenschaftliche Untersuchung der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Hannover, gibt darauf folgende Antwort:

„Eine völlige Neubildung machte der industrielle und damit auch geographische Aufschwung von Singen notwendig, um so den vermehrten Geschäftsanfall im Gerichtswesen zu bewältigen. Die Amtsgerichte Radolfzell und Engen, in vermindertem Umfang auch Stockach, gaben einige ihrer Gemeinden an das neue Amtsgericht ab.“[10] Man wird ergänzen dürfen: „widerstrebend“.

Die weitere Entwicklung nach 1929 sollte zeigen, dass der Gerichtsstandort Singen klug gewählt war. Wissenschaftlich formuliert: „Die sozio-ökonomischen Zusammenhänge oder die Zentralität, oberster Gesichtspunkt bei der jüngsten Verwaltungsreform (in den frühen 70er Jahren), sind sicher schon 1929 bei der Neubildung des Amtsgerichts Singen berücksichtigt worden“[11].

In Abgrenzung hierzu heißt es hingegen über die Landgerichte „am ganzen Hoch- und Oberrhein“, dort zeige sich „die historisch bedingte Gravitation großer Teile des Landes zu peripher gelegenen Zentren“. Sie mache allgemein „eine optimale Raumgliederung unmöglich“ und bringe es mit sich, dass beispielsweise der Schwarzwald zu den landgerichtsfernen Räumen zähle, obwohl mit der Stadt Villingen-Schwenningen ein „durchaus beachtliche(r) Zentralort(...)“ gegeben sei[12]. Mit anderen Worten fußte das Ja zum hiesigen Gerichtsstandort auf einem modernen Entscheidungskriterium im Sinne „optimaler Raumgliederung“.[13].

In der Zeit des Nationalsozialismus war für unabhängige Gerichte kein Raum. Nicht nur wurde die richterliche Gewalt zusehends unterlaufen und ausgehöhlt. Auch die Besetzung der Gerichte wurde immer stärker ausgedünnt, bis schließlich im Jahr 1943 zahlreiche kleinere Amtsgerichte zu Zweigstellen- und Geschäftstagsgerichten herabgestuft und dadurch vorläufig aufgehoben wurden, so auch die Amtsgerichte Engen und Radolfzell, deren Bezirke dem Amtsgericht Singen zufielen[14]. Die beiden Amtsgerichte wurden nach dem Krieg wiederhergestellt, doch wurde das Amtsgericht Engen 1974 endgültig aufgehoben und mit dem Amtsgericht Singen vereinigt[15].

Heute zählt das Amtsgericht Singen mit rund 111.000 Gerichtseingesessenen dieser Größenordnung nach zu den „Top Ten“ der badischen Amtsgerichte. Unter den insgesamt 108 Amtsgerichten in Baden-Württemberg gehört es – gemeinsam mit den Amtsgerichten Konstanz und Villingen-Schwenningen – mittlerweile zur Gruppe der mit acht und mehr Richterplanstellen ausgestatteten Amtsgerichte, zu der in Baden-Württemberg nach den fünf Präsidentenamtsgerichten 26 Amtsgerichte zählen[16]. Das Amtsgericht zählt aktuell 52 Köpfe, mit der erweiterten nachlassgerichtlichen Zuständigkeit werden es demnächst 62 Köpfe sein.

Als conditio sine qua non für eine gute Rechtspflege kommt eine beachtliche Zahl an hier niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen aus der Anwaltschaft hinzu. Deren Zahl steigerte sich von zehn im Jahr 1979 auf über 60 im Jahr 1994 bis auf 140 im Jahr 2017[17].“

(aus dem Vortrag des Direktors des Amtsgerichts zur Amtseinführung am 10. Oktober 2017)

 

[1] Vgl. Berner/Brosig (Hrsg.), Singen, die junge Stadt, Singener Stadtgeschichte, Bd. 3, 1994. S. darin auch Hans-Gerd von Dücker, Amtsgericht und Vollzugsanstalt in Singen, S. 395 ff.
[2] Emil Greulich, Wie Singen ein Amtsgericht bekam – 50 Jahre Amtsgericht Singen - , in Stadt Singen (Hohentwiel), Singener Jahrbuch 1979, S. 57 ff.
[3] Vgl. Eugen Schiffer, Die deutsche Justiz, 1928, S. 343 f.: Von 398 einstelligen Amtsgerichten seien 171 zwischen unter 55% und bis zu 85% ausgelastet sowie von weiteren 315 mit zwei planmäßigen Richtern besetzten Amtsgerichten 119 zwischen unter 67,5% und bis zu 92,5%. Von insgesamt 1.799 Landgerichtsdirektoren und Landgerichtsräten waren 859 zugleich zu Amtsgerichtsräten ernannt.
[4] Vgl. Kißener, Badische Richter zwischen Kaiserreich und Republik, in: Münchbach (Hrsg.), FS 200 Jahre Badisches Oberhofgericht, Oberlandesgericht Karlsruhe, 2003, S 107, 109.
[5] Vgl. Franz/Hofmann/Schaab, Gerichtsorganisation in Baden-Württemberg, Bayern und Hessen im 19. und 20. Jahrhundert, 1989, S. 166, 181.
[6] Vgl. Franz/Hofmann/Schaab, Gerichtsorganisation, S. 71.
[7] Vgl. Franz/Hofmann/Schaab, Gerichtsorganisation, S. 12 f.
[8] Vgl. Kißener, aaO., S. 107, 108 f.
[9] 1879 wurden die Amtsgerichte Gernsbach, Kenzingen und Walldürn wiedererrichtet, wobei letzteres 1924 endgültig wieder aufgehoben wurde, 1884 wurden die Amtsgerichte Neckarbischofsheim und Philippsburg sowie 1889 das Amtsgericht Gengenbach neu geschaffen.
[10] Franz/Hofmann/Schaab, Gerichtsorganisation, S. 6.
[11] Franz/Hofmann/Schaab, Gerichtsorganisation, S. 17.
[12] Franz/Hofmann/Schaab, Gerichtsorganisation, S. 17. Konstanz wird als ausgesprochen exzentrisch gelegen bezeichnet, aaO., S. 16.
[13] Von Stockach heißt es übrigens in dem Zusammenhang, es erstrecke sich wenigstens nur innerhalb eines einheitlichen Landschaftsraums, wenn es ihn auch nicht ausfülle, werde im wesentlichen aber durch seine Ferne von anderen Zentren und durch die Randlage vor Veränderungen geschützt. S. Franz/Hofmann/Schaab, Gerichtsorganisation, S. 4.
[14] Franz/Hofmann/Schaab, Gerichtsorganisation, S. 10, 26.
[15] Das Amtsgericht Singen aber erfuhr eine weitere Stärkung durch die über seinen Gerichtsbezirk hinausgehende Zuweisung von Zwangsversteigerungs- und Zwangsverwaltungssachen aus dem Bezirk des Amtsgerichts Radolfzell sowie von Landwirtschaftssachen aus dem ganzen Landgerichtsbezirk.
[16] Außerdem gibt es 35 Amtsgerichte mit vier bis sieben Richterplanstellen sowie 42 Amtsgerichte mit bis zu drei Richterplanstellen.
[17] Vgl. Hans-Gerd von Dücker, aaO. (Fn. 1), S. 395, 396.



Bildquelle: Stadtarchiv Singen



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